Georg Gatsas
Auf dem Trip zum verlorenen Selbst
WoZ, 17.12.2015
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In der Popmusik feiert die Psychedelik seit längerem eine Renaissance. Das Album «Mutant» des Elektronikproduzenten Arca zeigt nun die Grenzen der neuen alten Selbstsuche.

«Turn on, tune in, drop out»: So lautete 1967 die Parole des Psychologen Timothy Leary und des Anarchisten Jerry Rubin für die öffentliche Masseneinnahme von LSD in San Francisco. Die US-Regierung hatte die Droge – entdeckt vom Basler Chemiker Albert Hofmann und von Sandoz erfolgreich als Medikament vertrieben – gerade verboten. Dreh dich auf, stimm dich ein, setz dich ab: Die Losung steht für den gesellschaftlichen Umbruch von 1968, der auch eine Revolution der Wahrnehmung bedeutete. Zeit und Raum wurden als veränderbar empfunden, als Reise oder eben als Trip. Auf die Reise begab sich auch die Popmusik jener Zeit, in Songs wie «White Rabbit» von Jefferson Airplane oder auf Pink Floyds Debütalbum «The Piper at the Gates of Dawn». Dass sich beide Bands an Kinderbüchern orientierten, kam nicht von ungefähr: Schliesslich wird dort oft das Grosse klein und das Kleine gross.

Heute, fünfzig Jahre später, hat die digitale Arbeitswelt ihre leistungsfördernden legalen Highs, und Jungtalente werden in der Businesssprache «High Potentials» genannt. Gleichzeitig gibt es überall eine Renaissance des Psychedelischen zu beobachten. Zehntausende TouristInnen zieht es an den peruanischen Amazonas, um mit der Modedroge Ayahuasca die Loslösung von Körper und Geist zu erfahren. In der zeitgenössischen Kunst treibt der Neoschamanismus sein Unwesen, man schwört auf täuschende Bilderwelten und synästhetische Wahrnehmungsversuche. Auch in der Wissenschaft halten Psychedelika wieder Einzug: Experimente mit der Pilzdroge Psilocybin und Amphetaminen werden mit hohen finanziellen Zuschüssen bewilligt, vor allem zur Überwindung von posttraumatischen Belastungsstörungen und in der Schmerztherapie. Und auch in der Popmusik, wo der Gebrauch von Drogen nie weg war, erlebt das Psychedelische ein neues Hoch.

Der Kommunikationspixelhaufen
Längst im Mainstream angekommen ist Acid Rap. Der US-Hip-Hop-Star Asap Rocky schrieb sein gesamtes Album namens «A.L.L.A.» angeblich auf LSD. Pan Records aus Berlin, das derzeit angesagteste Label für elektronische Musik, veröffentlichte gerade sein erstes als «virtuelles Ökosystem» erhältliches Album: Es heisst «Deceptionista» und wurde von Aaron David Ross mit dem Ziel programmiert, «detaillierte, hochauflösende Darstellungen öffentlicher Intimität zu einer Art Psychedelika des 21. Jahrhunderts zu beschleunigen».
Genau da knüpft sein 25-jähriger Kollege Arca an. Mit seinem zweiten Album, «Mutant», fragt er: Verändert sich das Raum-Zeit-Gefühl in unserer digitalen Alltagskultur nicht zunehmend? Ist der sich stetig verschiebende und erneuernde Kommunikationspixelhaufen, von dem wir nicht lassen können, der unsere Wahrnehmung stetig aufzulösen droht, nicht ein Trip für sich? Und wenn ja, wie klingt das alles?
Arca wurde in Venezuela geboren, wo er in einer gesellschaftlichen Blase aufwuchs: Als Junge aus wohlhabender Familie wurde er auf Privatschulen geschickt, wo er unter seiner Homosexualität litt. Sein Debütalbum «Xen» klang unterkühlt, eisern, fast sinnentleert. Die digitalen Artefakte, der sich KollegInnen wie Fatima Al Qadiri vor ein paar Jahren gerne bedienten, lagen hier nur noch als schwer metallisch klingende Bruchstücke da. Der Nachfolger «Mutant» ist nun als Trip durch das postdigitale Jetzt zu verstehen. Schon beim Eröffnungsstück «Alive» reiben sich hektisch stotternde Klangfragmente an dunklen Ambientflächen, bis sie sich gasförmig auflösen. Man merkt sofort: Arca, der in seinen Clips bevorzugt Fetischklamotten trägt, zielt auf die komplette Ich-Zersetzung.

Schneisen im Gehirn
Er zerhackt, zersetzt seine Sounds, lässt sie schleifen, bis sie ihren elektronischen Körpern entweichen, formlos werden. Von fern hallt ein schepperndes Piano, afrikanisch anmutende Klangsignaturen und Stimmen schweben durch den Raum, gleiten aneinander vorbei. Ab und an dringt eine Ahnung von schmerzerfüllten Kitschmelodien durch eine rot gefärbte Nebelwand, bevor Schwerelosigkeit eintritt. Eine neue Welt öffnet sich, eine Geisterlandschaft delokalisierten Klingens, nur die übersteuerten Bässe schlagen neue Schneisen ins Gehirn. Die stetigen Verformungen und sonischen Mutationen funktionieren als Trip in einer kybernetischen Gesellschaft, der sich auch ohne Einnahme von Psychedelika einstellt.
Das neue Werk von Arca vermag zu faszinieren, schnell stellt sich aber auch Ernüchterung ein: Mit «Mutant» bildet Arca – wie in den letzten Jahren schon viele vor ihm – innerhalb gewisser musikalischer Vorgaben eine persönliche, nach innen gewandte Soundwelt ab, die einen als Hörer letztlich kaltlässt, weil sie sich nur um das eigene Ich dreht. Zynisch könnte man 1968 als Anfang dieser narzisstischen Sinnsuche sehen – oder historisch korrekter anmerken, dass damals die Reise nach innen führen sollte, um gleichzeitig Veränderungen in der Aussenwelt zu erreichen. Wenn heute angesichts der algorithmisch gesteuerten ökonomischen Regimes und der Überwachung der Nachrichtendienste nur noch ablenkendes Datenrauschen und bunter Bilderzauber um uns scheinen – was ist dann ausserhalb dieser Hölle noch hörenswert oder erzählbar?